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Die Dystopie der Anderen.

Patrick Figaj
4 min readDec 16, 2021

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Hätte ich mir das vorstellen können? Ich scrolle durch meinen Twitter-Stream. Draußen ist es neblig trüb. Überhaupt ist es die ganze Zeit neblig trüb. Auch wenn die Sonne scheint und der Himmel blau ist, scheint es neblig-trüb zu sein. Weil wir uns wieder distanzieren. Unser Alltag ist an vielen Orten und Plätzen geprägt von Abständen und Distanzregeln. Das schlägt auf die Stimmung. Klar. Hin und wieder auch mir. Aber ich unterschreibe nach wie vor fett: Wir müssen vorsichtig sein. Im Sinne aller. Die Freiheit jeder und jedes Einzelnen ist nur so stark wie die Gemeinschaft. Machen einige nicht mit, drehen wir uns im Kreis. Immer und immer wieder. Und so fahren wir weiter im Karussell der Gegenseitigen Vorwürfe. Dabei haben wir das schon alles zig mal hinter uns.

Ich scrolle durch den Stream. Lese Einsatzmeldungen. Lese, was ich bislang nicht in nächster Nähe mitbekommen habe.

Leute, die alles in Frage stellen, laut, uneinsichtig durch Mannheimer Innenstadt-Straßen ziehen. Am Ende werden Menschen verletzt. Polizisten.

Gegenseitige Vorwürfe. Noch so ein Punkt. Stimmt so nicht. Es ist der Versuch einer großen Mehrheit, einer kleinen lauten, teilweise schreienden, schubsenden und in Teilen aggressiven Minderheit gute Argumente entgegenzuhalten. Ins politische übersetzt: mit Maßnahmen. Eine Klaviatur der G-Regeln. Die ganz grundsätzlich Menschen schützen sollen. Mehr nicht. That’s it.

Das alles wird wiederum grotesk verzerrt von jenen, die sich auf die Fahnen geschrieben haben, dass sich eine Elite, ein Staat, ein irgendwie gelagerter Machtapparat zum Ziel gesetzt habe, sie zu unterwerfen. Warum Politik oder Eliten das überhaupt tun sollten? Spielt in der Gedankenwelt der Impfschnaken-Anhänger keine Rolle. Oder es ist eine Welt, die wiederum die Mehrheit nicht versteht. Aber auch das ist zugespitzt. Vereinfacht. Denn die Welt ist komplexer. Die Gesellschaft auch. Und die Realität — Sowieso. Wir drehen uns im Kreis.

Wir suchen also in Online-Netzwerken nach Antworten. Die wir zweifelsohne finden. Bloß: Die Strukturen lassen sich dadurch nicht klären. Oder nur in Ansätzen. Neblig-trüb. Strukturen, die in ganz andere als nur esoterische Milieus führen. Deren lose Fäden aber eben doch ein gespanntes Bild einer vernetzten Welt zulassen. Einer, die schon heute Vorstellungen von gestern wieder alltagstauglich machen möchte. Wieder — im Sinne von: seit Jahren. Die Impulse das System in Frage zu stellen, liegen nur oberflächlich betrachtet in der aktuellen Diskussion um Impflichten und Corona-Maßnahmen. Sie sind nur der nächste willkommene Anlass. Immer wieder gärt und verbreitet sich der Hass anlassbezogen. Pegida, Flüchtlinge, die Sorgen der Menschen. Der Bürger. Das Credo der AfD.

Die Gesellschaft ist aber nicht taub. Im Gegenteil. Viele nehmen wahr, was sich verschiebt. Immer weiter verschiebt. Parallelwelten, die ineinander und auseinanderdriften. Wir diskutieren viel über Spaltung, streiten, ob es nur Ränder sind, die abbrechen. Gräben, die sich auftun. Am Ende steht aber eins fest: Wenn der Dialog nicht mehr möglich ist, wenn sich Risse durch Freundschaften und Familien ziehen, dann vergiftet das den Austausch aller. Und die Atmosphäre.

Wenn wir knapp zwei Jahre nach Beginn dieser Pandemie auf uns selbst schauen, müssen wir uns beglückwünschen und gleichzeitig schütteln.

Technologien und Forschung machen einen immer schnelleren Fortschritt möglich. Schwerkranke Menschen können trotz härtester Krankheitsverläufe gerettet werden. Auch das gehört zur Realität. Zu einem riesengroßen Teil.

Nur wartet auf der anderen Seite eine Abkehr von alldem, was eine fortschrittlich geprägte Gesellschaft ausmacht. Die meisten sind sich einig: keinen Zurücklassen. Politisch möglich machen, dass viele schnellstmöglich einen Schutz vor einem potentiell tödlichen Virus bekommen. Dafür ernten sie Hohn, Spott und Vorwürfe. Wissenschaftlerinnen und Forscher werden vorgeführt. Sogar an den Online-Pranger gestellt. Weil sie das tun, was ihr Innerstes ihnen vorgibt: anderen zu helfen.

Man kann das gar nicht oft genug würdigen, was medizinisch geleistet wird und schon geleistet worden ist. Systeme am Anschlag. Politische Entscheidungsträger: bedrängt. Familien: zerstreut. Die Teams in den Rettungswägen, auf den Stationen. Überall im Gesundheitssystem ächzt und knarzt es. Und weit darüber hinaus. Nur:

Am Ende warten in Teilen der Gesellschaft Menschen, die in ihrer eigenen Dystopie angekommen sind.

Kurz: in ihrer eigenen Vorstellung einer kaputten Welt, die sie sich immer und immer wieder spiegeln. Entweder durch soziale Netze. Oder durch eine Gesinnung. Oder einer verklärten Vorstellung, weit abseits einer globalisierten und vernetzten Welt. Manche lassen sich treiben, einige reiten auf Hass-Wellen. Wieder andere profitieren davon. Oder lassen sich leichtgläubig verleiten.

Die Dystopie verzerrt das Bild einer Gesellschaft ins Schlechte. Totalitäre Systeme, unangemessener, ungezügelter Fortschritt und die Einschränkung der Freiheit des Einzelnen kommen darin vor. Exakt das, was viele rufen, oder auf Transparenten vor sich hertragen. Ein Staat, der sie angeblich anlügt. Der sie unterdrückt. Der Freiheiten beschränkt. Eine selbsterschaffene, dunkle Vorstellung einer Realität.

Keiner will auch nur eine Minute länger als nötig in dieser Pandemie ausharren.

Und dennoch wirft eine Seite der anderen vor, gerade das zu befördern. Diesen Status eines tauben, erstarrten öffentlichen Lebens beizubehalten. Das zu unterstützen. Was — mit Verlaub — absoluter Irrsinn ist. Kein Mensch mag diese Regeln, fühlt sich unter Dauer-Testung und Einschränkung wohl.

Niemand.

Aber viele wissen und können sehr gut einschätzen: Es ist der einzige Weg, der da wieder hinausführt. Die Pandemie sich selbst zu überlassen ist keine Option. Auch wenn das Virus sich leise ausbreitet, so ist es doch omnipräsent. Omikron lässt grüßen. Dass es ziemlich gefährlich sein kann sich damit anzustecken, sollte mittlerweile bei fast allen angekommen sein.

Womit enden Dystopien? Oft gar nicht. Oft tauchen mehr Fragen auf, als Antworten. Oder die nächste Verschwörung löst die vorherige nicht ab. Lässt sich nicht auflösen. Dystopien sind ein Strudel verworrener Argumentationsketten. Fast so, als diskutiere man mit einem Unbelehrbaren. Das ist am Ende vielleicht auch das Schicksal der politischen Entscheidung beim Thema Impfpflicht.

Eine Pflicht, die möglichst vielen ihre Freiheit zurückgeben wird. Gegen die andere aus subjektiven Zielen ankämpfen.

Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo sie die Gesellschaft im Ganzen einschränkt.

Die Dystopie der Wenigen endet nie.

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Patrick Figaj
Patrick Figaj

Written by Patrick Figaj

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