Suliman Sallehi, Pexels

Ach ja, Afghanistan

Patrick Figaj
6 min readAug 16, 2021

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Es fühlt sich an, es wirkt wie ein Film. Ein Film, den man schon mal gesehen hat. Und irgendwie doch nicht. Helikopter über Häuserdächern. Flucht. Angst. Unsicherheit. Hadernde Politiker:innen. Zaudern. Ungewisse Medienschnipsel. Und über allem schwebt diese eine Frage, die eigentlich gleich mit beantwortet werden kann: War das nicht alles vorhersehbar? War es. Und gerade deshalb bewegt es. Mich. Und so viele, unzählige Menschen.

Afghanistan ist weit weg. Und doch nicht. Ein paar Flugstunden, die aber wiederum nur die wenigsten dann doch irgendwann mal in Angriff genommen haben. Wie auch? Seit ich politisch denken kann, befindet sich das Land in einer Art Kriegszustand. Oder sagen wir wie es ist: Das Land war nie wirklich sicher. Auch wenn man in der politischen Verantwortung den Anschein sicherer Herkunftsländer diskutiert. Was am Ende echte Sicherheit bedeutet, ist Auslegungssache. Es gab sie real für viele nie.

Ich habe in den vergangenen Stunden oft überlegt, woran es eigentlich liegt, dass mich Afghanistan in diesen Tagen so bewegt. Ach ja, Afghanistan. Ein undurchdringliches, nie durchdrungenes Land. Im Grunde seit über 40 Jahren nicht mehr im Frieden. Eine Theorie von einem Land. Die Utopie einer Entwicklung. Jedenfalls aus Nachrichtensicht.

Was gerade passiert ist: Tausende Versatzstücke einer, unserer jüngeren Gegenwart, brechen auseinander, passen nicht mehr zusammen. Die Welt scheint schief zu sein.

2016 sagt ein stellvertretender Behördenleiter, der für viele Flüchtlingsunterkünfte verantwortlich war, zu mir: Wenn das noch ein paar Tage so geht, müssen wir die weiße Flagge hissen. Das ist fünf Jahre her. Was er meinte: Es gibt keinen Platz mehr für mehr Schutzsuchende. Vermeintlich. Denn Raum war immer da. Aber Raum ist keine Definition von politischem Platz für Menschen aus fremden Ländern. Raum hat keine Obergrenzen. Lässt sich nicht fassen. Also ging es immer um Platz. Der ist heute ausreichend da. Auch wenn die dunklen Wolken rechten Gedankenguts tiefer denn je über dem demokratischen Austausch schweben. Auch das eine Folge verfehlter Politik. Internationaler Politik. Afghanistan-Politik.

An die weiße Flagge muss ich in diesem Moment auch deshalb denken, da sie sinnbildlich dafür steht, sich zu ergeben. Oder aufzugeben. Beides scheint auf die von Menschentrauben umzingelten Transportflugzeuge der US-Amerikaner zuzutreffen: Ein überstürzter Abzug aus einem sich selbst überlassenen Land. Ein Fliehen. Ein Aufgeben. Afghanistan wird von der internationalen Gemeinschaft fallen gelassen. Nie waren traurige Bilder stürzender, verzweifelnder Menschen aus dem Himmel über Kabul näher an diesem Satz.

Wir suchen nach Halt.

Weil wir nicht begreifen wollen, in dieser von Interessen zerfressenen Zeit, wie man Menschen derart im Stich lassen kann. In dieser Suche ziehen wir dann Vergleiche: Zu Saigon. Vietnam. Bild-Vergleiche. 9/11. Beides hinkt. Aber im Grunde trifft auch beides zu: Was sich in diesen Stunden am Hindukusch abspielt, ist die finale Pointe einer 20-jährigen Epoche, die Menschen wie mich einen großen Teil ihres erwachsenen Lebens geprägt hat.

Stürzende Menschen aus Türmen waren es, als ich kurz vor dem Schulabschluss zu Hause ungläubig vor dem Fernseher stand. Über unseren Köpfen in der Nähe von Mannheim donnerten die ganze Nacht us-amerikanische Hubschrauber. Transportflüge. Hektisches Treiben. Soldaten auf dem Weg nach Ramstein. Keiner konnte diese neue Situation greifen. Jetzt schließt sich dieser Kreis. Die internationale Afghanistan-Strategie, sie war nie eine. Sie war immer nur bruchstückhaft, schemenartig greifbar. Falsche Interessen? Zu wenig Interesse? Ich muss mir auch an die eigene Nase fassen: Afghanistan war nicht immer der erste Anreiz, wenn es um eine neue Entwicklung vor Ort ging. Zu abgeschliffen und bekannt schien das ewige Zerren um eine neue Politik im Land.

Andererseits: Die Erfolge, Frauen, die Universitäten leiten können, sogar gründen. In diesem Land. Was für eine Freude. Was für ein Signal. Ich habe das mit Tränen in den Augen verfolgt. Es gab in diesem vom Staub überstülpten Land so etwas wie ‘Good News‘. Also doch: Der Ansatz von Nation-Building?

Das ist der nächste Punkt. Afghanistan ist nie weit weg gewesen, das Land streift uns immer wieder. Bei genauerem Hinsehen. Mich im Studium. Ach was. Davor. Neben mir liegt Todenhöfers: Wer weint schon um Abdul und Tanaya. Mit 20 suche ich nach Erlärunge, die es noch nicht gibt. Abbottabat. Warum? Wenigstens schreibt einer ein paar Sätze auf. Ein Versuch. In einem aktuellen Interview erzählt mir jetzt ein US-Experte vom immer zweifelhaften Demokratisierungsprozess. Nation-Building? Der Aufbau von staatlichen Strukturen, die funktionieren? Habe nicht wirklich stattgefunden. Sei vielleicht auch nie das Ziel gewesen. Eigentlich hatte das Colin Powell, der frühre US-Außenminister schon gesagt. Wollte das keiner hören? Dabei war das Land für mich in der Theorie von damals die Blaupause, wie internationale Politik vielleicht doch einen Teil zu einer besseren Welt beitragen kann. Mindestens zu einer freieren Welt. Welch ein naiver Trugschluss.

Und genau das ist es, was uns den Boden unter den Füßen wegreißt, obwohl wir auf sicherem Terrain stehen.

Abdrehende deutsche Transportmaschinen, die zu spät kommen. Die Menschen nicht mehr aus Afghanistan ausfliegen können. Die machtlos weiterfliegen, trotz aller technischer Überlegenheit. Das ist das Endstück einer Politik, die in den Trümmern des gestürzten World Trade Centers im Krieg gegen den Terror ihren Anfang nahm. Wie ich internationale Politik wahrgenommen habe. Wie sich meine Generation zwei Jahrzehnte geprägt hat. Heute ist alles grell. Wie ein weißes Pfeifen. Ein Schlag auf beide Ohren. Nichts geht mehr.

Dieser Ton wird Tage nachhallen. Und immer deutlicher ist: Hinter grauen Ministerialmauern gab es keine Vorstellung von dem, was kommen könnte. Oder keinen Weitblick, der schnelleres Handeln ermöglicht hätte. Oder es gab kein Interesse. Ein Satz wie ein Schuss in den eigenen Fuß. Denn wenn es heute heißt, 2015 dürfe sich nicht wiederholen, dann heißt das doch auch: Wir hängen unsere zivilisatorische Errungenschaft der politischen Völkerverständigung an den Nagel. In einer immer komplexer werdenden Welt ist das ziemlich wahrscheinlich aber keine gute Idee.

Was versagt hat ist der internationale Dialog. Im kleinen sitze ich 2016 auf einer Wiese vor einer ehemaligen US-Militäreinrichtung in Mannheim. Tausende warten einige Meter weiter darauf, wie es für sie weitergeht. Sie kommen aus Syrien. Nordafrika. Und: Aus Afghanistan. Ich knie bei einer vierköpfigen Familie. Das Gras steht hoch, es duftet nach Datteln und Fladenbrot. Wir lachen. Wir verstehen gegenseitig kein Wort. Es sind nur ein paar Minuten. Und ein paar englische Wortfetzen. Im Grunde aber sagen mir diese Menschen: Erst einmal danke. Aber dort wo wir herkommen, ist es schön. Nicht jetzt. Aber irgendwann möchten wir wieder dort auf einer Wiese sitzen. Diese Hoffnung dürfte sich nie erfüllt haben.

Afghanistan streift uns. Immer wieder. Auch mich. 2016 recherchiere ich unbgleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die sich in Mannheim als Straßenkinder durchschlagen, bis ins Gefängnis nach. Es sind die düsteren Gesichter verzweifelter junger Männer, die an Bussen und Bahnen hängend irgendwie in diese Stadt gekommen waren. Um von dort aus in einem Gefängnis zu landen. Perspektive: Gleich null. Auch unter ihnen: Afghanen. Gleichzeitig bin in Jugendunterkünften, um ihn die hoffnungsvollsten Augen zu blicken, die ich mir bis dahin nur vorstellen konnte. Ein Neuanfang! Was aus einzelnen Schicksalen wurde? Ich weiss es nicht. Aber in diesen Momenten war und ist ein zerrüttetes Afghanistan eben nicht weit weg. Sondern sehr präsent.

Nur das Pfeifen in den Ohren ist neu. Es ist beklemmend. Es ist das Ende und der Anfang einer Ära, in der ich lerne: Trotz einer scheinbaren technischen, militärischen, strategischen, politischen, aufgeklärten und unter vielen Umständen hilfsbereiten sogenannten westlichen Welt, sind wir nur ein Flüstern im Weltengemurmel. Eine hilflose und entmutigte Staatlichkeit, die zu lange zu unentschlossen war. Vielleicht hilft diese Erkenntnis zu einer Phase neuer Ehrlichkeit. Was ist machbar, was nicht. Was kann internationale Politik, was nicht. Was tun moderne Bündnisse, was nicht. Große Fragen, für eine hoffentlich irgendwann bessere Welt. Die wir nicht geschafft haben, mit aufzubauen.

Das bitterste aber an allem: Den Menschen vor Ort hilft diese Erkenntnis nicht mehr.

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Patrick Figaj
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