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Abseits von Allem

Von einer Parallelwelt zu reden, wäre untertrieben. Es gibt Menschen, die halten sich nur Kilometer weit von dir entfernt auf. Doch sie leben abseits fast jeglicher Vorstellungskraft. Als Journalist bist du immer wieder in Strafprozessen unterwegs. Viele ähneln sich. Viele sind furchtbar. Auch hart. Wie das Leben auf der Straße, wie die menschliche Unzurechenbarkeit. Und es gibt diese Art von Prozess, da schiebt einen die Realität ein Stück zur Seite. Um dir zu zeigen: Es gibt einen ersten Blick, einen ersten Eindruck. Einen zweiten Blick. Und es gibt die unergründlichen Wege dahinter.

Patrick Figaj
4 min readJun 18, 2019

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Dieser Prozess, der mich heute ein Stück weit zur Seite geschoben hat, spielt in Mannheim. Zunächst liest du die Anklage in solch einem Prozess. Nüchtern steht da reduziert in etwa, dass ein Mann seine Frau so schwer verprügelt hat, dass sie anschließend wahrscheinlich deshalb ein paar Tage später ihr Kind verloren hat. Außerdem soll er die schwer verletzte Frau vergewaltigt haben.

Das ist die erste Ebene. Eine äußerst brutale Tat. Dann beginnt so ein Prozess. Schnell wird klar, das kommt so hin. Die Anklage stimmt mit dem überein, was der Angeklagte später im Prozess in weiten Teilen auch zugeben wird. Diese strafrechtliche Ebene ist so klar und eindeutig – auch wenn der Prozess noch nicht abgeschlossen ist – das keiner im Saal in Abrede stellen würde: Dieser Mann, der da mit Handschellen und Sträflingskleidung sitzt, wird verurteilt werden.

Der Mann ist Bulgare. Er ist Analphabet. Eine Schule hat er nie besucht. Der Vater war Trinker, die Mutter hatte sich wohl prostituiert, er stand mit 13 Jahren auf einem griechischen Bau und half aus. Dann folgte eine Karriere als Erntehelfer auf südeuropäischen Feldern und ein Fischerdasein im bulgarischen Winter. Er trinkt maßlos. Zuletzt wohnte er mit seiner Frau in einem Zelt in einem Waldstück an einer Mannheimer Bundesstraße. Dort soll die Tat passiert sein.

Schubladen öffnen sich. Ganz Schränke voller Schubladen, die man jetzt öffnen könnte.

Doch darum soll es hier gar nicht gehen. Nicht um die brutale Art und Weise des Verbrechens. Nicht um Mitgefühl in irgendeiner Art und Weise für den Täter. Auch nicht um Vorurteile. Osteuropa-Bashing. Nicht um den Pressekodex und schon gar nicht darum, psychologisch verstehen zu wollen, was in einem Menschen abgeht, der seine Frau derart misshandelt.

Eine Parallelwelt, die schon fast keine mehr ist. Weil sie sich abseits von allem befindet, was ein durchschnittlicher Mitteleuropäer eventuell noch als üblich ansehen könnte. Diese Lebenswelt hat mir einen Stoß verpasst. Nicht dass das Problem neu wäre: In bestimmten Mannheimer Stadtteilen – und nicht nur dort – gibt es riesige Probleme mit Wohnungen, in denen hoffnungslos viele Osteuropäer, vor allem Rumänen und Bulgaren, auf einen besseres Leben hoffen. Es gibt zahlreiche Lösungsansätze wie man solche Missstände in den Griff bekommen könnte. Zum Teil greifen sie, zum Teil laufen sie ins Leere.
Im aktuellen Beispiel hat es das Paar aber nicht einmal dorthin geschafft. Eine Wohnung in Deutschland war wohl ihr Ziel. Wie und warum? Einfach, um ein besseres Leben zu leben.

Ob das auch realistisch zu erreichen war? Eine Frage, die nicht gestellt wird.

Und dann gibt es namenlose Mittelsmänner und Frauen, die diese Lebensumstände ausnutzen. Ich lese in den vergangenen Monaten immer häufiger den Begriff der modernen Sklaverei. Menschen, die zu unwürdigsten Bedingungen und zu quasi unsichtbaren Löhnen in zahlreichen veschiedenen Ländern schuften. Oft geht es dann um Asien, dann um Indonesien, China oder Indien. Um Afrika. Weniger um Ausbeutung nebenan.

Aber während einer im Frankfurter Westend seinen Kaffee für 4,20 Euro trinkt, kann es sein, das gerade beim ersten Schluck ein, zweihundert Meter weiter ein Mensch unter Bedingungen versucht Geld zu verdienen, die nichts damit zu tun haben, was in Mitteleuropa sonst üblich ist. Abseits von allem werden Menschen die weder lesen noch schreiben können, die keine Schulbildung haben, die die Welt eigentlich überhaupt nicht kennen und kruden Versprechungen irgendwelcher Ausbeuter hinterherrennen mit nichts abgespeist. Und verrohen, ja verkommen. Diese Menschen sind auch sichtbar. Müssen nicht unbedingt in irgendwelchen Zelten hausen. Sie sitzen beispielsweise bettelnd am Mannheimer Straßenrand. Stundenlang, auf Knien, den Blick gesenkt. Gehorchen irgendwelchen kruden Typen, die sie weiter und immer weiter ausbeuten.

Prozesse sind auch Fenster in die Unterwelt. Oder eben wie in diesem Fall, in eine Parallelwelt abseits von allem.

In der Menschen in Ludwigshafen auf verregneten Plätzen legal ausgesetzt werden, um sich dann in ihrer hilflosen Situation den nächsten Ausbeutern anzuschließen. Um auf Feldern, Hinterhöfen, in Schattenwelten ausgebeutet zu werden.

Warum darüber schreiben? Um den Spalt etwas weiter zu öffnen, den Blick etwas zu schärfen. Denn abseits der großen Themen der Migration sind es Einzelschicksale, die durchaus übertragbar sind. Wo nicht mal mehr parallele Welten entstehen, sondern abgehängte Menschen nur noch existieren, werden Dialoge schwieriger. Die aber dringend notwendig sind. Wie? Keine Ahnung. Also doch. Aber nicht im modellhaften Sinn.

Wer heute von einem modernen Europa spricht, muss auch solche grotesken Verzerrungen mitdenken. Um folgende Generationen nicht weiter abzuhängen. Denn weit abseits, da ist noch wer.

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Patrick Figaj
Patrick Figaj

Written by Patrick Figaj

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